Waisen im Misserfolg

Nach der 1:2-Niederlage des Hamburger SV gegen den FC Bayern verstärkt sich die Diskussion, ob das strategisch angelegte HSV-System auch ohne Trainer Thomas Doll funktionieren kann. Doch über den Winter dürfte er kommen

„Das ist ja normal in einer Neid- und Machtgesellschaft“

AUS HAMBURG OKE GÖTTLICH

Die Geduld der Zuschauer hielt noch bis Mitte der zweiten Halbzeit. Anschließend schwoll die Verzweiflung der eigenen Fans zu einer lautstarken Unmutsbekundung an. „Berit Berisha“, forderten die Anhänger. Ihre letzte Hoffnung richtete sich auf diesen kaum bekannten jungen Stürmer, groß geworden in der eigenen Jugend und zu Saisonbeginn aus der dänischen Liga zu seinem Verein zurückgekehrt.

Der Ruf der Anhänger wurde erhört. Er kam. Berisha war dann auch der einzige Profi, der von den Fans mit Namen begrüßt wurde, als er den Rasen betrat. Bei den eingewechselten Danijel Ljuboja und Mario Fillinger blieb das Publikum indes stumm. Es war ein stiller Protest, der seit Wochen lautstark diskutiert wird: Sind Spieler wie Atouba, Ljuboja, Guerrero, Boubacar Sanogo und Mehdi Mahdavikia überhaupt in der Lage, in einer schwierigen Lage mehr als Dienst nach Vorschrift abzuliefern? Auch Doll stellt mittlerweile in Frage, ob er momentan auf Führungsspieler zählen kann. „Einige haben Angst vor der eigenen Courage“, sagte er. Und dies, obwohl der HSV auch gegen die Bayern – wie schon gegen Arsenal – in Führung gegangen war.

Rafael van der Vaart verwandelte einen Elfmeter, verursacht durch ein Foul von Martin Demichelis an Sanogo, zur 1:0-Führung (18.). Weshalb sich das Team von Trainer Thomas Doll während der zweiten Hälfte mit dieser Führung im Rücken immer weiter zurückzog und die gute Arbeit im Raum aus der ersten Hälfte beinahe gänzlich einstellte, ist eine der vielen Fragen, die niemand beantworten kann, der sich derzeit mit dem HSV beschäftigt. „Wir haben uns dann unverständlicherweise zurückgezogen, haben viel zu tief gestanden, die Bayern wieder ins Spiel gelassen, wie es eigentlich überhaupt nicht unsere Art ist“, gab Doll kopfschüttelnd das Geschehen wieder.

Fahrlässigkeiten waren es, die zu den zwei Gegentoren führten. Beim Ausgleich schafften es mit dem starken Vorbereiter Sebastian Deisler (siehe nebenstehender Text) und Torschütze Roy Maakay (56.), zwei Bayern, den aus sechs Spielern bestehenden Defensivverbund des Hamburger SV auszuhebeln. Claudio Pizarro nutzte einen weiteren Abstimmungsfehler in der Hamburger Viererkette, die in dieser Saison bereits mit 18 verschiedenen Spielern bestückt wurde, zum 1:2.

So wenig Neues das Ergebnis brachte, desto größer werden die Fragezeichen der Verantwortlichen, wie man diesem Misserfolgsstrudel entkommen kann. Die neue Dimension der Kritik, nun auch vonseiten der eigenen Fans vorgetragen, versucht Doll so professionell wie möglich und so zäh wie nötig auszuhalten. „Dass jetzt viele Leute aus den Schützengräben kommen, ist ja normal in einer Neid- und Machtgesellschaft. Ich bin inzwischen schon abgehärtet, ich kann damit umgehen“, sagte ein sich nach wie vor resistent gebender Trainer und schloss einen Rücktritt vor der Partie am Samstag in Bochum aus.

Auch die Vereinsführung bleibt ihrer Linie treu, die Ursachen eher bei der Einstellung der Profis und der Verletzungsmisere zu suchen als bei dem Trainer, der ja ein wichtiger Mosaikstein im gesamten sportlichen Aufbau des Vereins ist. Einen fünfstelligen Betrag investiert der Verein gerade in das neue HSV-Labor. Alle Blut-, Puls-, Laktat- oder Fettwerte, Trainings- und Matchreports sollen in einer Datenbank erfasst werden.

Inspirieren ließ sich Sportchef Dietmar Beiersdorfer wie in vielen Dingen aus der italienischen Serie A, in der Doll wie er gespielt haben. Man stelle sich mal Peter Neururer oder einen anderen Trainer aus der Feuerwehrmann-Kaste bei der wissenschaftlichen Auswertung dieser Daten mitsamt der Auswirkungen auf die Aufstellung vor. Trainer und Vorstände, die, um nur bei diesem Beispiel zu bleiben, derart fortschrittliche Leistungsdiagnostiken nutzen, gibt es in Deutschland nicht sonderlich viele. Und somit auch nicht viele Trainer, auf die ein solches Anforderungsprofil zuträfe.

Wahrscheinlich glaubt der HSV-Vorstandsvorsitzende Bernd Hoffmann auch deshalb an „die Konstellation“. Und weiter: „Wir glauben, dass wir in dieser personellen Konstellation durch dieses unglaubliche Tal kommen werden. Wir möchten das mit dieser Mannschaft tun und mit dem Trainer Thomas Doll. Und möglichst nicht nur die nächsten drei Wochen, sondern – wenn es irgendwie geht – auch die nächsten drei Jahre. Wir haben uns nicht nach einem neuen Trainer umgeschaut“, sagte Hoffmann am Sonntag im DSF. Er sagt aber auch: „Wir haben eine massive Krise. Wir müssen da schnell wieder rauskommen und haben nicht ewig dafür Zeit.“ Eine ruhige Vorbereitung in der Winterpause will er Doll aber nach heutigem Stand zugestehen. Wie sich Trainer, Spieler und Verantwortliche dabei fühlen, hat selten jemand schöner auf den Punkt gebracht als Bastian Reinhardt: „Der Erfolg hat viele Väter, aber der Misserfolg ist ein Waisenkind. Uns hilft momentan keiner, wir sind allein.“ Da könne auch kein Psychologe „mit Gelaber helfen. Da helfen nur Siege.“ Auf einen solchen wartet der Hamburger Sportverein seit 22 Spielen.

HAMBURG – MÜNCHEN 1:2Hamburger SV: Wächter - Benjamin, Reinhardt, Mathijsen, Atouba - Wicky (87. Berisha), van der Vaart (84. Fillinger) - Mahdavikia, Trochowski - Sanogo, Guerrero (84. Ljuboja) Bayern München: Kahn - Sagnol, Demichelis (46. Lucio), van Buyten, Lahm - Ottl (46. Deisler) - van Bommel, Schweinsteiger, Salihamidzic - Makaay (89. Santa Cruz), Pizarro Zuschauer: 57.000 (ausverkauft); Tore: 1:0 van der Vaart (18./Foulelfmeter), 1:1 Makaay (57.), 1:2 Pizarro (79.)